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Hamburg, Carl von Ossietzky

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Hamburg und seine Bauten 1914 – Dokument der Metropole im Aufbruch

Hamburg und seine Bauten, unter Berücksichtigung der Nachbarstädte Altona und Wandsbek, 1914. Hrsg. vom Architekten- und Ingenieur-Verein zu Hamburg. 2 Bde. Hamburg: Selbstverl., 1914 SUB Hamburg, Signaturen: HH 2563/1; Y/1142: 1914

Auch digital vorhanden: Hamburg und seine Bauten 1914, Bd. 1 und Bd. 2

Deutsches Schauspielhaus

„August 1914“ ist das Vorwort des „Buchausschusses“ des Architekten- und Ingenieur-Vereins zu Hamburg unterschrieben, mit dem das zweibändige Kompendium „Hamburg und seine Bauten 1914“ zur 21. Wanderversammlung des Verbandes deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine in Hamburg erschien – Monument für eine auf den 20.-27. August angesetzte, am 10. August dann wegen „der gegenwärtigen Weltlage“ abgesagten Veranstaltung. Bereits zweimal hatte dieser alle zwei Jahre abgehaltene Kongress in Hamburg stattgefunden, 1868 und 1890, und dabei jeweils repräsentative Publikationen mit sich gebracht. 1868, nur neun Jahre nach seiner Gründung, hatte der „Architectonische Verein“, später: Architekten- und Ingenieur-Verein zu Hamburg (AIV), den Kongress erstmals ausgerichtet, mit einer 100x100 Fuß großen künstlichen Insel („Architektentempel“) in der Binnenalster als festlichem Ort des Geschehens, aber mit einer vergleichsweise bescheidenen Publikation von 168 Seiten, „Hamburg – historisch-topographische und baugeschichtliche Mittheilungen“ als Führer für die Kongressgäste.           

1890, zum zweiten großen Hamburger Architekten- und Ingenieurstreffen, wählte der „Buchausschuss“ des AIV ein voluminöseres Format, 730 Seiten mit 1.377 Abbildungen: Reichsgründung, der Ausbau von Verwaltungs- und Schulbauten wie der städtischen Infrastruktur waren zu verarbeiten, vor allem aber die Hafenerweiterung (über 150 Seiten) und der Boom privater Neubauten, Villen und Etagenhäuser (100 Seiten). Der Titel „Hamburg und seine Bauten“ war durch „Frankfurt a.M. und seine Bauten“ (1886) und „Köln und seine Bauten“ (1888) vorgeprägt, und nach dem Hamburger Band von 1890 blieb er für entsprechende Werke zu Leipzig (1892), Straßburg (1894), Berlin (2 Bde, 1896) und Bremen (1900) maßgeblich – aber nur für Hamburg ist „... und seine Bauten“ gleich zum Label einer ganzen Serie von bilanzierenden, bis in die Gegenwart reichenden Veröffentlichungen 1890 – 1914 – 1929 – 1953 – 1968 – 1984 – 2000 geworden.

 

Hafenkran

1914 verdoppelte sich der Umfang gegenüber 1890 noch einmal: 2.566 Abbildungen auf knapp 1.400 Seiten in zwei Bänden, für die insgesamt 74 Autoren verantwortlich zeichneten, darunter der seit 1909 amtierende Baudirektor Prof. Fritz Schumacher. Drei Mitglieder des Herausgebergremiums von 1890 gehörten auch 1914 dem „Buchausschuss“ an: Wasserbaudirektor Baurat Prof. Johann Friedrich Bubendey (1846-1919), der Architekt und Bauhistoriker Julius Faulwasser (1855-1944) und der Rathausarchitekt Martin Haller (1835-1925, AIV-Vorsitzender 1876-1884).

                1912 war Hamburg zur Millionenstadt geworden. Durch Eingemeindungen hatte sich die Grundfläche der Stadt um zwei Drittel vergrößert; sie verteilte sich allerdings immer noch auf 11 getrennt liegende Flächen. Seit 1888 gehörte Hamburg zum Zollgebiet des Deutschen Reiches und es gab den Freihafen; Verträge mit Preußen um die Jahrhundertwende klärten die Elbregulierung im Hafenbereich. In wenigen hochdynamischen Jahrzehnten wurde Hamburg zur Großstadt – und genau diese Spanne dokumentiert „Hamburg und seine Bauten“ 1914 umfassend und in herausragender Qualität. Alle zentralen Prozesse der Urbanisierung werden wie unter dem Brennglas sichtbar: Verdichtung und Expansion des Wohnungsbaus, neue Verkehrsinfrastrukturen, Energie- und Wasserversorgung, Entwässerung und Abfallbeseitigung, ein gewaltiger Schub bei der Errichtung von Schul- und Verwaltungsgebäuden, Kultureinrichtungen und vor allem in der geradezu explosionsartigen Hafenentwicklung. Ein „anschauliches und möglichst vollständiges Bild“ (Bd. I, Vorwort) davon vermitteln die Bände, weil mit einer Vielzahl einander ergänzender graphischer Mittel - Fotos, Gebäudepläne und –risse, Karten, Detailskizzen, u.v.m. – zur Unterstützung des Textes gearbeitet wird.

Kuhwärder

Gegliedert ist die Darstellung in drei Teile: Allgemeines, Hochbau, Ingenieurbau. Dies wird auch in die angehängten Darstellungen zu Altona und Wandsbek übernommen. Der erste Teil enthält neben stadtgeschichtlichen, geographischen und statistischen Grunddaten und einer Übersicht zur Architekturgeschichte eine ausführliche Darstellung der hamburgischen Bauverwaltung, der von ihr verausgabten Mittel und der geltenden Baugesetzgebung.

                Der 525 Seiten umfassende Abschnitt „Hochbau“ ist das Herzstück des ersten Bandes. In die zurückliegenden zweieinhalb Jahrzehnte, über die berichtet wird, fällt im öffentlichen Bereich zu allererst die Fertigstellung des neuen Rathauses 1897 (S. I/102-112). In nächster Nähe am Adolfsplatz entstand 1909-1912 der östliche Anbau der Börse
(S. I/113-117). Am Sievekingplatz komplettierten die Neubauten des Zivilgerichts (1898-1903) und des Hanseatischen Oberlandesgerichts (1907-1912) das repräsentative Gerichtsviertel. Fuhlsbüttel erhielt zusätzlich zu dem 1876/79 erbauten ersten 1901-1906 ein zweites großes Zentralgefängnis mit 588 Einzelhaftzellen, das mit 2,9 Mio. Reichsmark Kosten in gleicher Größenordnung verursachte wie Ziviljustiz- (3,4 Mio.) und OLG-Gebäude (2 Mio.) sowie der gleichzeitige Ausbau von Strafjustizgebäude und Untersuchungsgefängnis (3 Mio.) (S. I/152-168). Verantwortliche Architekten, Bauingenieure und Kosten werden hier wie in den meisten anderen Fällen zuverlässig mitdokumentiert. Für die moderne Kommunikationsinfrastruktur standen der Neubau des Zentralfernsprechamts in der Schlüterstraße und die 1898-1901 vollzogene Erweiterung des Hauptpost- und Telegraphengebäudes am Stephansplatz.

Die zahlreichen Schulbauten des Berichtszeitraums erläutert Baudirektor Fritz Schumacher (S. I/168-207) mit detaillierter Darstellung der schulpolitischen planerischen Vorgaben zum Beispiel für die Volksschulen. Abgebildet sind u.a. die Schule Forsmannstraße  und die von Schumacher selbst entworfen Schulen in der Lutterothstraße, im Teutonenweg, am Rübenkamp und am Tieloh; desgleichen Bauprogramm und Beispiele für die Realgymnasien, die nach 1890 einen großen Aufschwung erlebten. Als Beispiel für  beruflich orientierte Schulen seien die Navigationsschule von 1905 und die Staatliche Kunstgewerbeschule am Lerchenfeld von 1911/13 genannt. Seit 1912 schließlich wurden die Pläne für einen Neubau der Gelehrtenschule des Johanneums in der Maria-Louisen-Straße umgesetzt, eingeweiht 1914 in den ersten Tagen des Weltkriegs.

Brückenbau-Pfeiler

In kultureller Hinsicht bedeuteten die Theaterbauten des Deutschen Schauspielhauses 1899/1900, des Thaliatheaters 1911/12 und der gleichzeitige Umbau der Neuen Oper zum Operettentheater einen großen Sprung nach vorn.  Wilhelm Emil Meerwein beleuchtet das im Zusammenhang mit Lichtspiel-, Gesellschafts- und Vereinshäusern  (S. I/365-396). Gustav Blohm ergänzt mit der reich illustrierten Übersicht über Hotel- und Restaurationsbauten dazu den Blick auf die Festsäle und Unterhaltungstempel wie das Uhlenhorster Fährhaus (S. I/397-424).

Parallel dazu entstanden große Museumsbauten - Völkerkundemuseum, Altonaer Museum und der Anbau der Kunsthalle – und wissenschafliche Infrastruktur (S. I/306-330; II/593-595): Die Botanischen Staatsinstitute wurden 1904-1906, das Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten am Hafenrand 1910-1914 errichtet. Die Sternwarte zog 1912 in den neuen Bergedorfer Standort ein. Das allgemeine Vorlesungswesen, Keimzelle der 1919 gegründeten Universität, erhielt 1911 den neuen Kuppelbau in der Edmund-Siemers-Allee.

Unter den Kultusgebäuden (S. I/118-152) seien nur die neue Synagoge am Bornplatz von 1906 und der Wiederaufbau des Michel nach dem verheerenden Brand im selben Jahr genannt.

         Dringendst benötigte die rasant wachsende Großstadt – die Choleraepidemie hatte das 1892, am Beginn des Berichtszeitraums von „Hamburg und seine Bauten“, dramatisch deutlich gemacht – moderne, große Einrichtungen und Neubauten im Gesundheitsbereich (S. I/259-303, II/622-625). Antworten auf diese Problemstellung waren u.a. die bedeutende Erweiterung des aus den 1880er Jahren stammenden Universitätskrankenhaus Eppendorf auf 2.200 Betten, die Neubauten der Allgemeinen Krankenhäuser in Barmbek, Eilbek und St. Georg , das Hafenkrankenhaus und das Kinderhospital Altona. Die „Irrenanstalten“ Langenhorn und Friedrichsberg erhielten in den 1890er Jahren ihre für lange Zeit gültige Gestalt. „Gebäude für Wohltätigkeitszwecke“ (S. I/330-365) dokumentiert der Architekt Hugo Groothoff in dem Band in großer Fülle, vor allem Häuser der Stiftungen, die sich der neuen sozialen, im großen Maßstab auftretenden Probleme und Randgruppen annahmen, z.B. das (351f.) Asyl für obdachlose Männer, die Erziehungsanstalt für schulentlassene Mädchen in Alsterdorf (S. 358ff.), das Arbeiterinnenheim in der Dorotheenstraße (S. I/341f.) oder das Selma-Anna-Otto-Heim zur Aufnahme in Heilung begriffener Kinder am Gojenberg in Bergedorf (S. I/342). Mit dem Bevölkerungswachstum und der Verdichtung des Wohnens wurden auch Hygiene- und Freizeiteinrichtungen wie Bäder, Schwimmhallen, Parks, Gastwirtschaften und Sportgelände gebaut. Die Dokumentation am Ende des ersten Bandes verlockt zur Nachprüfung, was davon in welcher Form bis heute Bestand behalten hat.


             Dies gilt genauso für den (S. I/432-594, II/635-653, 711-716, 724-728) opulent dokumentierten privaten Haus- und Wohnungsbau wie für die Errichtung von Kontorhäusern, Fabrik- und sonstigen Geschäftsgebäuden. Die Fotos der Innen- und Außenanlagen einschließlich etlicher Privatgärten sowie die Grundrisszeichnungen der Raumaufteilung vermitteln zusammen mit den stets genannten Baukosten einen plastischen Eindruck von der Wohnkultur verschiedener sozialer Schichten und Wohnlagen.  Als frühes Beispiel der Gartenstadtbewegung findet im Wandsbek-Teil des zweiten Bandes die Gartenstadt Wandsbek (S. II/711, 714-716) Erwähnung.

Geländer

Der zweite Band ist ganz überwiegend dem Ingenieurbau gewidmet: die ersten knapp 150 Seiten dem Strom- und Hafenbau an der Elbe, den Hafenbahnen und dem 1907-1911 erbauten Elbtunnel zwischen St. Pauli und Steinwerder (S. II/137-146); es folgen der Straßen- und Brückenbau (S. II/153-183), die Erschließung neuer Siedlungsräume durch Kanal- und Schleusenbau sowie die Alsterregulierung (S. II/184-192) und schließlich die Stadterweiterung mit den großen „Straßendurchbrüchen“ (S. II/ 192-219), etwa der Mönckebergstraße oder der Kaiser-Wilhelm-Straße, auf der Basis der General- und Einzelbebauungspläne, die seit 1889 aufgestellt wurden. Enorme Anstrengungen flossen um die Jahrhundertwende in den Bahnbau (S. II/424-482), sowohl was die Verkehrsanbindung aller Hafenareale anging als auch hinsichtlich des sprunghaft zunehmenden Personenverkehrs: genannt seien nur die Zusammenführung aller nach Hamburg einmündenden Fernbahnlinien im Hauptbahnhof, der neue Dammtorbahnhof, der Hochbahnbau (Ringlinie und Zweiglinien seit 1906) und die Vorortbahnen (Walddörfer-, Langenhorner Bahn) mit einer Vielzahl künstlerisch gestalteter Haltestellen. Das Bild des öffentlichen Ingenieurbaus wäre unvollständig ohne die übrigen Grundpfeiler der Großstadt-Infrastruktur: Müllentsorgung (S. II/241-265), Entwässerung (S. II/329-365), Wasserversorgung (S. II/365-396), Elektrizitäts- und Gasversorgung (S. II/408-424).

  Private gewerbliche Bauten nehmen ebenfalls großen Raum ein und zeigen, welche wirtschaftliche Dynamik die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg prägte, als zwischen 1890 und 1912 die Arbeiterschaft in Hamburg von 30.000 auf 102.000 zunahm und die Zahl der Betriebe sich fast versechsfachte. Bedeutende Bauten errichteten von der Norddeutschen Affinerie bis zur Pianofabrik Steinway & Sons, von Kohle- und Kokswerken bis zu Rudolf Otto Meyer, Beiersdorf, dem Eisenwerk vorm. Nagel & Kaemp, dem Hamburger Fremdenblatt oder der Ruberoid-Gesellschaft zahllose große Firmen (S. II/483-537) – ein eindrucksvolles Panorama. Den Abschluss bilden die Werften und Reedereien - dazu die Schiffbauversuchsanstalt -, also der für Hamburgs Entwicklung entscheidende Wirtschaftssektor (S. II/538-572). Und die Darstellung der Großreedereien bleibt nicht im Administrativen stecken, sondern mündet in beeindruckende Bilder der Inneneinrichtung von Ozeanriesen der HAPAG, „Imperator“ (Vulcan-Werke 1910-1913, mit Ritz-Carlton-Restaurant, Wintergarten, Schwimmhalle, Fest- und Ballsaal) und „Vaterland“ (Blohm & Voss 1914, „noch etwas größer und geräumiger als der ... ‚Imperator‘“), der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft („Cap Finisterre“, „Cap Trafalgar“) und anderer Linien.

Haus Messtorff

Neben dem enzyklopädischen Reichtum an Fakten und Abbildungen sind es gerade auch die eher unerwarteten Details wie diese Schiffs-Interieurs, welche den besonderen Reiz von „Hamburg und seine Bauten“ ausmachen. Beispielsweise bietet der zweite Band Übersichten über die in Hamburg verwendeten Typen von Parkbänken, Brückengeländern, Leuchtkörpern (S. II/323-328) ; ebenso Typologien der Straßenanlagen in Hamburg (vier Varianten, S. II/153) und Altona (S. II/583, 586: 25 Typen!). Unter Sportanlagen findet man die Anfänge des Flughafens Fuhlsbüttel: die für zwei Zeppeline ausgelegte Luftschiffhalle (S. I/624f.). Und schon die Zeitgenossen überraschte ein dramatischer Fund vom 3. November 1910, der mit Fotos im ersten Band (S. I/19-23) berichtet wird: Bei Wassertiefbohrungen am Kirchwerder Landweg wurde eine Gasquelle angezapft, die dann zunächst vier Wochen lang brannte, bis man sich anstelle eines totalen Abbrandes für die Nutzung des austretenden Methangases als Zumischung zum Leitungsgas bzw. zur Heizung des Pumpwerks Rothenburgsort entschied und am 2. Dezember die dann verschlossene Quelle zur weiteren Ausbeutung vorbereitete.

Ulrich Hagenah, Leiter der Hamburg-Abteilung der Staats- und Universitätsbibliothek