FAQ
© 2024 Staats- und Universitätsbibliothek
Hamburg, Carl von Ossietzky

Öffnungszeiten heute09.00 bis 24.00 Uhr alle Öffnungszeiten Leichte Sprache

Atlas Russicus

Rußischer Atlas, welcher in einer General-Charte und neunzehen Special-Charten das gesamte Rußische Reich und dessen angräntzende Länder, nach den Regeln der Erd-Beschreibung und den neuesten Observationen vorstellig macht.

[U.a. von Joseph-Nicolas Delisle]. Hrsg.:  Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg, 1745.
Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Kartensammlung
Signatur: KS 4853/904, aufrufbar in den Digitalisierten Beständen der SUB

„Der längst erwartete Rußische ATLAS, welcher das grosse Rußische Kayserthum in einer allgemeinen und 19. besondern Charten vorstellig macht, trit hiemit an das Licht ...“ So wird der erste Atlas des gesamtrussischen Reichs, 1745 in Sankt Petersburg erschienen, eingeleitet.
Er ist das Ergebnis der erfolgreichen Zusammenarbeit von russischen Geodäten und Kartographen und ausländischen Mitgliedern der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften.

Das unter dem Namen Atlas Russicus bekannte Kartenwerk erschien in einer russischen Ausgabe sowie in Ausgaben mit lateinischen, deutschen und französischen Titelblättern und Erklärungstexten. Den Kartenteil bilden 20 Kupferstichkarten mit lateinischen oder russischen Titeln und russischen Ortsnamen. Die Eingangskarte ist eine Generalkarte des russischen Imperiums von der Ostsee bis zum Pazifik in einem Maßstab von 1:8.400.00. Das europäische Russland ist auf 13 Karten im Maßstab 1:1.527.000 dargestellt, sechs Karten dokumentieren die sibirischen Gebiete im Maßstab 1:3.360.000.

Es war Peter der Große (1672-1725), der im Zuge der Modernisierungsbemühungen eine kartographische Erfassung seines Reichs mit wissenschaftlichen Methoden wünschte. Dafür holte er nicht nur ausländische Fachleute ins Land, sondern förderte auch die Ausbildung von einheimischen Geodäten und Kartographen. Eine wichtige Rolle bei der Ausbildung der zukünftigen Landvermesser und Kartenzeichner spielte zunächst die Navigationsschule in Moskau, später die Seeakademie in St. Petersburg und schließlich die 1725 in St. Petersburg gegründete wissenschaftliche Akademie.

Für die Koordination der im gesamten russischen Gebiet stattfindenden geodätischen Arbeiten übernahm zunächst der Obersekretär des Senats, Ivan Kirilovič Kirilov (1689-1737), die Verantwortung. Auf seine Initiative geht wahrscheinlich auch die Berufung des französischen Astronomen und Kartographen Joseph-Nicolas Delisle (1699-1769) an die neu gegründete Akademie zurück. Dieser sollte für die Entwicklung einer russischen Kartographie auf wissenschaftlicher Grundlage sorgen und einen Atlas des Zarenreichs vorlegen. Joseph-Nicolas Delisle, der Bruder des berühmten Kartographen Guillaume Delisle, kam 1726 zusammen mit seinem Stiefbruder Louis Delisle de la Croyère (1690-1741) nach St. Petersburg, wo sie beide als Astronomen an der Akademie der Wissenschaften wirkten.

Kirilovs Hoffnung, bald ein gedrucktes Ergebnis seiner Bemühungen in Form einer Generalkarte zu sehen, wurde von Delisle, der eine Vermessung des gesamten Imperiums mit Hilfe der Triangulation anstrebte, enttäuscht. Weil diese Methode viel zu viel Zeit in Anspruch nahm, ließ Kirilov im Jahre 1734 ca. 30 Karten auf eigene Kosten stechen und drucken, unter anderem auch eine Gesamtkarte, aufgenommen in den Jahren 1731-1732 (vgl. Postnikov 1996, S. 42).

Expo des Monats (August)

Delisles Arbeit am Atlas ging tatsächlich recht schleppend voran. Obwohl er bestimmte Punkte astronomisch ermittelte, seinen Bruder Louis ans Eismeer schickte, um Triangulationen durchzuführen und Koordinaten festzustellen sowie weitere Vermessungsarbeiten anordnete,  ließen konkrete Ergebnisse auf sich warten. Auch das 1735 gegründete Geographische Departement mit ihm an der Spitze, das für die Gesamtheit der kartographischen Aktivitäten der Akademie zuständig sein sollte, brachte nicht die erhofften Fortschritte. Erst 1740, als Delisle für astronomische Beobachtungen nach Sibirien aufbrach, konnten der Mathematiker Leonhard Euler (1707-1783) (vgl. auch Exponat des Monats Februar 2011), dem die Leitung des Geographischen Departements übertragen wurde, und der Geograph Gottfried Heinsius (1709-1769) die Bearbeitung des Atlasses vorantreiben und einen Teil der Karten für den Druck vorbereiten.
Als Euler 1741 und  Heinsius 1744 Russland verließen, wurde die Leitung des Geographischen Departements und die Aufgabe, das Vorhaben zu Ende zu bringen, an Christian Nicolaus Winsheim (1694-1751) gegeben und nicht wieder an Joseph-Nicolas Delisle.
Zwischen 1742-1744 wurden fertiggestellt: eine achtteilige Karte des russischen Territoriums und eine in zwei Blättern, 19 Gebietskarten sowie der Erklärungstext. Fünf Karten wurden zur Überprüfung dem von der zweiten Kamtschatka-Expedition zurückgekehrten Geographen und Historiker Gerhard Friedrich Müller (1705-1783) vorgelegt sowie die im Januar 1745 beendete Generalkarte. Aber auf Druck des kaiserlichen Hofs drängte Johann Daniel Schumacher (1690-1758), der damalige Sekretär der Akademiekanzlei, auf Veröffentlichung. So blieben Müllers Korrekturvorschläge unbeachtet, und die Karten wurden in der ursprünglichen Form an die Kupferstecher weitergereicht.
Joseph-Nicolas Delisle, der als Herausgeber fungierte, konnte zwanzig Jahre nach seiner Ankunft in St. Petersburg, am 2. September 1745, endlich den Atlas Russicus der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften und der Weltöffentlichkeit vorstellen (vgl. Bagrow 1975, S. 186).

Expo des Monats (August)

Trotz der fehlenden Entdeckungen der zweiten Kamtschatka-Expedition wurde das Werk mit großer Bewunderung aufgenommen. Es bildet tatsächlich einen Meilenstein in der Entwicklung der russischen Kartographie, denn „erstmals waren in großem Umfange astronomische Ortsbestimmungen der Kartendarstellung zugrunde gelegt worden.“ (Hoffmann 2008, S. 108)

Leonhard Euler war sehr stolz auf diesen Atlas. Im Juli 1747 schrieb er an Johann Daniel Schumacher und verteidigte das Werk gegen die Kritik des nach Paris zurückgekehrten Joseph-Nicolas Delisle: „Die Verteidigung des Atlasses nehme ich immer auf mich: denn wenn er [J.-N. Delisle] gegen ihn nichts anderes vorbringen kann, als dass die Karten an einigen Stellen richtiger sein könnten, dann stimme ich ihm ohne Schwierigkeiten bei, denn außer Frankreich gibt es wohl kaum ein Land, das bessere Karten besitzen würde. Und auch in dem pflichte ich ihm bei, dass man, wenn man ganz Russland mit der Triangulation vermessen würde, erheblich bessere Karten angefertigt werden können: Aber wenn man berücksichtigt, dass ein solches Unternehmen selbst in 50 Jahren nicht zu machen ist, dann wird jeder vernünftige Mensch zugeben, dass die veröffentlichten Karten erheblich besser als gar keine sind. Darüber hinaus wird durch die Veröffentlichung dieser Karten eine genauere Vermessung nicht beendet, sondern eher noch gefördert, denn es ist leichter, vorliegende Karten zu verbessern, als neue anzufertigen... Diese Gründe sollten in aller Welt anerkannt werden, auch wenn die veröffentlichten Karten so unvollkommen sind, wie Delisle konstatiert, aber auch hierin stimme ich ihm nicht völlig bei, sondern behaupte, dass sie nicht nur genauer als alle bisherigen russischen Karten sind, sondern sogar viele deutsche Karten übertreffen“. (Aus dem Russischen übersetzt, in: Hoffmann 2008, S. 108)

Mit diesem Atlas hat sich Russland in den vorderen Rängen der internationalen Kartographie positioniert.

Das Exemplar unserer Bibliothek ist eine deutsche Ausgabe mit lateinischen Kartenüberschriften und teilkolorierten Kupferstichen und wurde 1986 für die Kartensammlung antiquarisch erworben. Es stammt aus der Bibliothek des Großfürsten Kyril Vladimirovič Romanov, der 1938 im französischen Exil starb. Der aus braunem Leder gefertigte Einband ist mit dem kaiserlichen Wappen in Goldprägung geschmückt.

Gabriele Urban

Expo des Monats (August)

Literatur

  • Bagrow, Leo: A History of Russian Cartography up to 1800. Ed. by Henry W. Castner. Wolfe Island, Ontario 1975.
  • Chabin, Marie-Anne: L’astonome français Joseph-Nicolas Delisle à la cour de Russie dans la première moitié du XVIII-e siècle. In: L’influence française en Russie au XVIII-e siècle. Publ. sous la dir. de Jean-Pierre Poussou... Paris 2004. (Collection historique de l’Institut d’études slaves ; 40), S. 503-519.
  • Chabin, Marie-Anne: La curiosité des savants français pour la Russie dans la première moitié du XVIII-e siècle. In: Revue des études slaves (1985) 57, Nr. 4, S. 565-576.
  • Etwas über die geographischen Charten von Russland, zu Anfange des vorigen Jahrhunderts, nebst einem bisher noch ungedruckten Briefe des großen Leonhard Euler. (Aus der St. Petersburgischen Teutschen Zeitschrift). In: Allgemeine Geographische Ephemeriden. Verfasset von einer Gesellschaft von Gelehrten, und herausgegeben von Friedrich Justin Bertuch und Christian Gottlieb Reichard. Bd. 5. Weimar 1804. S. 96-101.
  • Hoffmann, Peter: Leonhard Euler und Russland. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät. 94(2008), S. 101-115.
  • Postnikov, Alexei: Russia in maps: a history of the geographical study and cartography of the country. Moscow 1996. (Russia's cultural heritage from the Russian State Library collection).

Die SUB Göttingen hat ihr Exemplar der lateinischen Ausgabe des Atlas Russicus digitalisiert.

 

Kontakt:

Öffentlichkeitsarbeit

Veranstaltungen
E-Mail: pr@sub.uni-hamburg.de