"Als die Weisen Sterne sahen" – Thomas Selles Motette zum Fest der Heiligen drei Könige
Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Signatur Cod. in scrin. 251, passim, und Cod. in scrin. 252, Bd. 1, fol. 163v–169r
2013 jährt sich zum 350. Mal das Todesjahr des am 2. Juli 1663 in Hamburg verstorbenen städtischen Kantors Thomas Selle. Der aus Zörbig in Sachsen stammende und von den Leipziger Thomaskantoren Sethus Calvisius sowie Johann Herman Schein ausgebildete Komponist wirkte nach einer rund 15jährigen Zeit als Lehrer, Schulleiter und Kantor in Holstein (Heide, Wesselburen, Itzehoe) ab 1641 als Kirchenmusikdirektor in Hamburg. Er gilt als Reformator der Hamburger Kirchenmusik, deren Organisationsstrukturen er verbesserte und damit wesentlich zum Aufblühen des Hamburger Musiklebens um die Mitte des 17. Jahrhunderts beitrug. 1659 und 1663 stiftete Selle seine private Musikbibliothek mit rund 380 Musikdrucken des 16. und 17. Jahrhunderts sowie seinen kompositorischen Nachlaß der Hamburger Stadtbibliothek, womit der Grundstock für die Musiksammlung der heutigen Staats- und Universitätsbibliothek gelegt wurde.

Die für das Fest der Heiligen drei Könige am 6. Januar bestimmte Motette Videntes stellam magi ("Als die Weisen den Stern sahen") stammt ursprünglich aus der um 1630 in Wesselburen entstandenen Werksammlung Monomachia harmonica latina, in der Selle Geistliche Konzerte für verschiedene Kirchenfeste zusammengestellt hatte. In dieser Frühfassung ist das Werk für zwei konzertierende Sopran- oder Tenorstimmen und Basso continuo sowie einen sechsstimmigen Ritornellchor konzipiert. Für spätere Aufführungen in Hamburg erweiterte Selle die drei Hauptstimmen (zwei Soprane und Vokalbaß) mittels dreier Violinen, Viola und Basso continuo zur Achtstimmigkeit, sodaß nun zusammen mit dem beibehaltenen sechsstimmigen Ritornellchor bis zu 14 Stimmen zum Einsatz kommen. Außerdem ergänzte er eine in der Frühfassung nicht enthaltene einleitende Sinfonia. Das Ergebnis der Umarbeitung war ein klangprächtigeres, mit instrumentalen Anteilen angereichertes Erscheinungsbild der Motette gegenüber den bescheideneren Besetzungsmöglichkeiten in Wesselburen. Selle reihte die Komposition schließlich in den Teil III seiner lateinischen Geistlichen Konzerte ein und sicherte damit ihre Überlieferung im Kontext seiner 1663 der Hamburger Stadtbibliothek gestifteten handschriftlichen Opera omnia.

Selle eröffnet die Komposition mit einer Verbeugung vor dem von ihm hochgeschätzten Altmeister der klassischen Vokalpolyphonie, Orlando di Lasso, indem er bei den Anfangsworten Videntes stellam dessen gleichnamige Motette aus den Sacrae cantiones (Nürnberg 1562) zitiert. Selle führt dieses melodische Zitat jedoch auf moderne Weise, das heißt, nach Art des konzertierenden Stils weiter, was sich bereits äußerlich an der den Ausführenden abverlangten Virtuosität bemerkbar macht. Der dem Matthäus-Evangelium entstammende Text (Matth 2, 10–11) wird durch ein dreimal wiederkehrendes Ritornell auf den Text Gaudet chorus coelestium, bei dem es sich um die siebte Strophe aus dem weitverbreiteten Hymnus A solis ortus cardine des Caelius Sedulius († um 450) handelt, in drei große Abschnitte gegliedert.
Hören Sie Selles Motette Videntes stellam magi in einer Einspielung des Bremer Barock Consorts unter Leitung von Manfred Cordes (Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Labels cpo, Georgsmarienhütte 2010, Bestellnummer cpo 777553-2).
Jürgen Neubacher
Videntes stellam magi | Als die Weisen den Stern sahen, |
Et intrantes domum | Und sie gingen in das Haus |
Et apertis thesauris suis | Und sie breiteten ihre Schätze aus |
Literatur
- Thomas Selle (1599–1663). Beiträge zu Leben und Werk des Hamburger Kantors und Komponisten anläßlich seines 400. Geburtstages, hrsg. von Jürgen Neubacher, Herzberg 1999 (= Auskunft. Mitteilungsblatt Hamburger Bibliotheken, Jg. 19, Heft 3)
- Jürgen Neubacher: Die Musikbibliothek des Hamburger Kantors und Musikdirektors Thomas Selle (1599–1663). Rekonstruktion des ursprünglichen und Beschreibung des erhaltenen, überwiegend in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky aufbewahrten Bestandes, Neuhausen 1997 (= Musicological Studies & Documents, 52)
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