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"Es sprechen gerade junge Leute auf seine Texte an"

Samstag, den 15.05.2021

Pressespiegel

Germanist Hans-Gerd Winter über die Aktualität des Schriftstellers Wolfgang Borchert

Hamburger Abendblatt, von Thomas Andre

190 Mitglieder hat die in Hamburg ansässige Wolfgang-Borchert-Gesellschaft. Ihr Chef ist seit Langem der emeritierte Germanistik-Professor Hans-Gerd Winter. Was sagt er zu den Festtagen des Schriftstellers, zu seinem Nachruhm und seiner Aktualität?

Ist Wolfgang Borchert der berühmteste Frühvollendete der neueren deutschen Literatur?

Hans-Gerd Winter:  Dass Wolfgang Borchert mit 26 Jahren am 20. November 1947 und damit einen Tag vor der Uraufführung von " Draußen vor der Tür"  in den Hamburgern Kammerspielen starb, verhalf ihm mit zum Erfolg und Anteilnahme versprechenden Image als junger Autor. Dabei sah Borchert sein Werk keinesfalls als " vollendet"  an: " In zwei Jahren wird das Zeug kein Mensch mehr lesen" , schreibt er im letzten Brief vier Tage vor seinem Tod an Ernst Rowohlt. Eher als " frühvollendet"  kann wohl Georg Büchner gelten, mit dessen " Woyzeck"  Borcherts " Draußen vor der Tür"  gern verglichen wird aufgrund der existenziellen Frage: Wer schützt uns davor, dass wir Mörder werden?

Warum müssen wir Borchert lesen?

Man muss Borchert nicht unbedingt lesen, aber man sollte ihn lesen. Lässt man sich auf seine Schreibweise ein, freut man sich an den gezielten Wortschöpfungen, Wiederholungen, Anlauten und an der rhythmischen Sprache und spürt, wie der Autor versucht, den Swing, der dem Lebensgefühl seiner Generation entsprach, schreibend nachzugestalten. Zugleich ist Borchert durch Krankheit und Todesdrohung gezwungen, sich mit seinen Erfahrungen in Diktatur, Krieg und Gefängnis auseinanderzusetzen. Vor allem seine Darstellung der Traumata von Tätern und Opfern bleibt dabei sehr aktuell. Man denke zum Beispiel an die aus Afghanistan jetzt abziehenden Bundeswehrsoldaten. Zur Identifikation lädt dabei Borcherts Blick auf den Einzelnen, den einfachen Soldaten, seine Ängste, falsche Euphorie und seine Schuldgefühle ein. Und die Erfahrung der Heimatlosigkeit des damaligen Kriegsheimkehrers findet sich heute ganz aktuell zum Beispiel bei vielen Flüchtlingen, die zu uns kommen.

Jenseits runder Geburtstage und Jubiläen sowie des Schulunterrichts -  wie präsent erscheint er Ihnen heute?

Der sich schon abzeichnende Erfolg des Festivals " Hamburg liest Borchert"  zeigt, wie präsent Borchert in seiner Heimatstadt ist. Ein Beispiel: Unsere Lesung mit Musik " Lebe, liebe, leide und schreibe"  musste zwar aufgrund der Umstände gestreamt werden. Der Film wurde aber gleich zu Anfang an 400 Computern angesehen, die längst nicht nur in Hamburg standen. Die Borchert-Box in der Staatsbibliothek und die aktuelle Digitalisierung der Briefe und Handschriften werden Borchert über die Printmedien hinaus zusätzliche Leser verschaffen. Nach meiner Erfahrung sprechen gerade junge Leute auf Borcherts Texte an. Darüber hinaus gibt es an vielen Orten Leser, die sich für ihn einsetzen, aktuell zum Beispiel die Bürgerinitiative in Weimar, die 2021 nicht nur zahlreiche Veranstaltungen anregt, sondern auch die Benennung einer Straße nach ihm durchgesetzt hat, der dort seine erste Zwangs-Ausbildung zum Soldaten erfahren hatte.

Wie ertragreich ist der Borchert-Lobbyismus der Borchert-Gesellschaft?

Wir werden als Anreger, Unterstützer von Initiativen und Aufführungen im In- und Ausland angesprochen. Kontakte bestehen zu Theatern, Schulen und Wissenschaftlern -  ganz abgesehen von den vielen interessierten Laien. Und wir arbeiten bei Lesungen, Ausstellungen und Konferenzen mit Veranstaltern vor Ort zusammen, um ein breites Publikum zu erreichen. Selbst wenn die Zahl der Mitglieder im In- und Ausland mit etwa 190 relativ gering ist, haben wir mit der relativ hohen Zahl an jungen Mitgliedern gegenüber vielen Autorengesellschaften einen Vorteil. Es gelingt uns, Borcherts Werk aktuell zu halten -  von seiner eindeutigen Botschaft bis hin zur Vielstimmigkeit unterschiedlicher, einander widersprechender Anliegen und Aussagen.

Thomas Andre

Kontakt:

Referat für Öffentlichkeitsarbeit


Dr. Konstantin Ulmer
E-Mail: konstantin.ulmer@sub.uni-hamburg.de
Telefon: +49 40/42838-5918

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