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Warum weinst du denn, Alter?

Donnerstag, den 20.05.2021

Pressespiegel

Drastik, Jazz und Zärtlichkeit: Hamburg feiert den Dichter Wolfgang Borchert, der heute vor hundert Jahren geboren wurde

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 115, S. 9. Von Jan Wiele

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.05.2021, Nr. 115, S. 9

Charly Hübner ist als Schauspieler gebucht auf nordische Schnoddrigkeit, ob in Spielfilmen oder im Rostocker "Polizeiruf" - aber seine Paraderolle in diesem Ton, das zeigte sich nun, ist vielleicht die des Wolfgang-Borchert-Vorlesers. Den Eingangsdialog aus Borcherts Jahrhundert-Drama "Draußen vor der Tür" zwischen einem Beerdigungsunternehmer und einem alten Mann, bald darauf entlarvt als der personifizierte Tod und der "Gott, an den keiner mehr glaubt" - diesen bitter-nihilistischen und doch auch von Situationskomik geprägten Dialog macht Hübner im Vortrag so plastisch, dass es eine schreckliche Freude ist.

"Rülpst mehrere Male und sagt dabei jedesmal: Rums!" lautet die Regieanweisung für den vor Leichenfresserei aufstoßenden Tod, und Hübner setzt das gnadenlos konsequent um, so dass Bauerntheater auf Sartre'schen Ekel trifft, aufgefangen von einer gewissen Rührseligkeit, wie sie bei Borcherts Texten immer im Hintergrund und manchmal auch im Vordergrund steht. "Warum weinst du denn, Alter?", fragt der Tod, und Gott sagt: "Weil ich es nicht ändern kann. Es sind doch alles meine Kinder! Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf. Sie ersaufen sich. Sie ermorden sich, heute hundert, morgen hunderttausend." Hübner steht auf der Bühne der Hamburger Kammerspiele, wo das Stück am 21. November 1947 uraufgeführt wurde, im Publikum die Eltern des Verfassers. Ihr Sohn allerdings war einen Tag zuvor gestorben. Er wurde nur 26 Jahre alt.

Die Stadt Hamburg feiert diesen Sohn, der heute hundert geworden wäre, mit einem mehrwöchigen Festival, das natürlich unter der Pandemie zu leiden hat. Bei der Eröffnungsveranstaltung fast ohne Publikum, dafür ins Netz übertragen, lotete man mit verschiedenen Stimmen Borcherts notgedrungen schmales und doch tiefes Werk, das Lyrik, Prosa und Dramatik umfasst, aus: zwischen seiner Drastik und Zärtlichkeit, zwischen Döblin'scher Sachlichkeit und lyristischem Pathos, zwischen komödiantischen und musikalischen Aspekten. Borcherts Text "Hamburg", gesetzt in Prosa, hier vorgetragen vom heutigen Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher - vielleicht im Herzen doch eine Hölderlin'sche Ode mit dem Tenor "Lange lieb' ich dich schon"? So abwegig wäre das nicht, denn der jugendliche Borchert verehrte Hölderlin ebenso wie Rilke. Aber auch Jazz ist da schon herauszuhören: "Stadt: Urtier, raufend und schnaufend, Urtier aus Höfen, Glas und Seufzern, Tränen, Parks und Lustschreien".

Hätte Borchert länger gelebt, vielleicht wäre aus ihm ein deutscher Beat-Dichter geworden. Oder auch ein Sketch-Schreiber: In seiner Erzählung "Schischyphusch", hier verlesen von Isabel Bogdan, treffen ausgerechnet zwei Menschen mit demselben Sprachfehler aufeinander. Der eine denkt, der andere machte sich über ihn lustig. Ein Soulsänger wie der Hamburger Stefan Gwildis wäre Borchert wohl nicht geworden - aber trotzdem auch nicht ganz abwegig, wie Gwildis in einer Adaption Borcherts Nebel hier nun um die Laterne haucht. Auch als Rezitator macht er sich gut bei einigen unsterblichen Zeilen: "Das Geglüh und der Hund machten die Nacht zur Nacht."

Dann noch Borcherts 1946 entstandener Nachkriegsgenerationentext "Das ist unser Manifest", der Rilke verächtlich zu machen sucht, auf schöne Kunst und gute Grammatik pfeift, stattdessen auf Derbheit setzt, gar fordert, zur Geliebten "alte Sau" zu sagen: vielleicht gerade in der Distanzierung vom Guten und Schönen sich doch sehnend danach? Ziemlich sicher. Denn am Ende steht ein Trotzalledem: "Doch, doch: Wir wollen in dieser wahn-witzigen Welt noch wieder, immer wieder lieben!"

Der Schriftsteller Matthias Politycki, der dies vortrug, meinte später im Gespräch: Aus dem Krieg zu kommen wie Borchert und dann ein Manifest zu schreiben, das an die Liebe appelliere, das sei schon stark. Borchert war zweimal an der Ostfront, zweimal in mehrmonatiger Haft, erst wegen vermuteter Selbstverstümmelung, dann wegen Wehrkraftzersetzung: Er hatte vor Kameraden Goebbels parodiert, wurde denunziert. Schwerkrank kam er im Mai 1945 mit Glück nach Hamburg zurück.

Die dortige Universitätsbibliothek hat ihm im Gedenkjahr eine neue Dauerausstellung eingerichtet. Von nun an ist dort "Borcherts Zimmer" begehbar, in dem seine Bibliothek, sein Schreibtisch und viele Erinnerungsstücke zu sehen sind. Etwa die Küchenuhr mit blauen Zahlen auf weißem Lack, die in einer Kurzgeschichte Borcherts die heile Vorkriegswelt symbolisiert, oder das Buddelschiff "Tui Hoo", benannt nach dem sprechenden Seewind aus seiner gleichnamigen Erzählung. Auch digital ist dieses Zimmer sehr gut erschlossen: ein gelungenes, fast an einen Wes-Anderson-Film erinnerndes Mäusekino. Sogar die Tabakspfeife kann man anklicken. Dazu gibt es auch hier künstlerische Annäherung an Borchert zu sehen und zu hören, etwa von Mirko Bonné.

Zugleich hat die Bibliothek den gesamten Borchert-Nachlass in Digitalisaten frei zugänglich gemacht. Das ist wohl das Überraschendste in diesem Gedenken: Denn neben dem Sprachkünstler Borchert ist hier auch der weitgehend unbekannte Maler und Zeichner zu entdecken, der teils seine Texte selbst illustrierte, so etwa die "Hafenballade" mit Bleistift und Aquarellfarben.

Im Bild wie im Wort Borcherts kann man verschiedene Einflüsse ausmachen, etwa den des Expressionismus. Das hat ihm bisweilen den Vorwurf des Epigonentums eingebracht. Was aber spräche dagegen, seine wilde Stilmischung, Bob Dylan lässt grüßen, heute als geschickte, bereits postmoderne Montage zu erkennen?

Weitere Gedenkveranstaltungen stehen in Hamburg noch aus, etwa Hafenrundfahrten über die "stadtstinkende kaiklatschende schilfschaukelnde sandsabbelnde möwenmützige graugrüne große gute Elbe" oder ein literarischer Spaziergang durch Borcherts Heimatstadtteil Eppendorf. Hier tippte, als der Sohn bereits von Fieberanfällen geschüttelt war, wahrscheinlich aufgrund eines erlittenen Leberschadens, der Vater abends das Tagwerk seines Sohnes in die Schreibmaschine. Auch das kann zu Tränen rühren.

In eher loser Assoziation zu Borcherts "Draußen vor der Tür", aber tief beeindruckend war der Diskussionsabend des Hamburger Literaturhauses am vergangenen Dienstag. An die Erfahrungen des Kriegsheimkehrers Beckmann aus dem Theaterstück, das jüngst auch in der alten Hörspielfassung neu veröffentlicht wurde (F.A.Z. vom 16. November 2020), knüpften hier drei Exilautoren im Lichte ihrer eigenen Erfahrungen an: Im gerade entstehenden Roman "Wollknäuel" der syrischstämmigen Rosa Yassin Hassan fragt die Hauptfigur: "Wie soll ich weiter einen Glauben an die Menschenrechte aufrechterhalten?" Den auch aus Syrien stammenden Ahmad Katlesh, der nach eigener Auskunft zum ersten Mal auf einer Bühne Deutsch sprach, erinnerte Borcherts Stück an eine Situation, in der er nicht nach Jordanien einreisen durfte, aber auch nicht in Syrien unter dem Assad-Regime bleiben wollte. Am Ende lauschte man noch minutenlang Katleshs Stimme in einer arabischen Übersetzung von Borcherts Klage-Fragen.

JAN WIELE

Unter hamburgliest.de findet man das Restprogramm des Borchert-Festivals, unter borchert.sub.uni-hamburg.de den Nachlass und Vermittlungsangebote, sogar Unterrichtsmaterialien.

Kontakt:

Referat für Öffentlichkeitsarbeit


Dr. Konstantin Ulmer
E-Mail: konstantin.ulmer@sub.uni-hamburg.de
Telefon: +49 40/42838-5918

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