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Die Jäger der geraubten Bücherschätze

Freitag, den 25.10.2019

Pressespiegel Raubgut

Lena Thiele im Hamburger Abendblatt vom 25.10.2019, S. 13:

Vor 1945 kaufte die Staatsbibliothek beschlagnahmte Werke aus jüdischem Besitz. Jetzt ermittelt sie die Erben der rechtmäßigen Eigentümer

 

Rotherbaum  Ihren Großvater Hans Sternheim hat Ingrid Mertens 1942 

 

das letzte Mal gesehen. Er wurde gemeinsam mit seiner Ehefrau nach 

 

Theresienstadt deportiert. " Als ich aus der Schule kam, waren sie 

 

nicht mehr da", erinnert sich die heute 90-Jährige." Dass jetzt 

 

Eigentum von meinem Großvater aufgetaucht ist, hat mich sehr berührt."  

 


 

 

Am Donnerstag hat sie in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek 

 

fünf Bücher, die Hans Sternheim gehörten und als NS-Raubgut identifiziert 

 

wurden, entgegengenommen und sie der Bibliothek geschenkt -  ergänzt um 

 

Bücher und Dokumente ihrer Familie, die eng mit Theodor Fontane verbunden war.

 


 

 

Es ist die 34. Rückgabe von Raubgut der Bibliothek, 634 Bücher sind bisher 

 

an Erben der früheren Besitzer übergeben worden. Immer wieder entscheiden sich 

 

Erben, Werke als Dauerleihgaben oder Schenkungen der Bibliothek zu überlassen. 

 

Die Übergabe ist der Abschluss einer monatelangen Spurensuche.

 

Anneke de Rudder forscht in der Arbeitsstelle Provenienzforschung der Bibliothek. 

 

Wenn sie sich an die Arbeit macht, gleicht dies einer Detektivarbeit. Die 

 

Historikerin sichtet Kataloge, sammelt Hinweise, vertieft sich in Akten -  und 

 

landet immer wieder dort, wo es nicht weitergeht. In diesem Fall gestaltete 

 

sich die Suche besonders zäh.

 

Die 52-Jährige schlägt ein dickes Buch mit abgenutztem Leinen­einband auf, 

 

es nimmt den halben Schreibtisch ein. Im Zugangsverzeichnis der Bibliothek 

 

sind alle Ankäufe und Schenkungen aufgeführt, handschriftlich in blauer 

 

Tinte. Von 1941 an sind seitenweise Zugänge gelistet, die aus umfangreichen

 

"Schenkungen"  der "Geh. Staats-Polizei"  stammen. Die meist jüdischen 

 

Besitzer waren in Konzentrationslager deportiert oder ins Ausland vertrieben 

 

worden. Ihr Hab und Gut wurde von der Gestapo beschlagnahmt. In der Hamburger 

 

Bibliothek ist dies sehr offen dokumentiert. In anderen Einrichtungen ist 

 

oft auch " Alter Bestand"  oder nur " J"  angegeben.

 

Auf die Sternheim' schen Bücher stößt die Forscherin in einem anderen 

 

Teil des dicken Journals, bei den Ankäufen. " Ab 1935 kann man davon 

 

ausgehen, dass es sich um Notverkäufe handelte. Die Juden mussten 

 

ihren Besitz verkaufen, weil sie dringend Geld brauchten. Damit sind 

 

diese Bücher NS-Raubgut."

 

Im Mai 1939 kauft die Bibliothek 78 Bücher vom Hamburger Auktionshaus 

 

Hauswedell, darunter Sachbücher, Romane und Biografien. 39 gehörtem 

 

zuvor -  das ergeben weitere Recherchen in alten Auktionskatalogen - 

 

"St. in Berlin". Sie stammen aus "nicht-arischem Besitz" , einem von 

 

den Nationalsozialisten eingeführten Vermerk.

 

Anneke de Rudder prüft, ob sie noch im Besitz der Bibliothek sind. 

 

Doch nur fünf Werke haben die vergangenen Jahrzehnte überstanden. 

 

Sehr wahrscheinlich wurde ein Teil schon 1943 zerstört. Beim Bombenangriff 

 

auf Hamburg verlor die Bibliothek etwa zwei Drittel ihres Bestands. 

 

Allein für den Wiederaufbau wurden noch während des Krieges etwa 30.000 

 

Bücher aus jüdischem Besitz übernommen. Erst in den 1990er-Jahren 

 

begann die systematische Provenienzforschung. Die lang verschleppte 

 

Aufarbeitung hat wohl mehrere Gründe. So war über viele Jahre noch 

 

Personal aus der NS-Zeit beschäftigt. Auch seien seriell produzierte 

 

Bücher weniger öffentlichkeitswirksam als teure Kunstwerke, sagt 

 

Maria Kesting, Leiterin der Arbeitsstelle, die 2005 eingerichtet wurde. 

 

"In erster Linie geht es um den ideellen Wert."

 

Bei der sogenannten Autopsie der fünf Fundstücke entdeckt Anneke de Rudder 

 

etwas, was für ihre Forschung ein Glücksfall ist. In einem der Bücher 

 

klebt ein Exlibris, ein kunstvoll gestalteter Eigentumsnachweis. Die 

 

kleine Zeichnung beinhaltet die vollständigen Namen des Ehepaars Sternheim. 

 

Die Forscherin macht sich auf die Suche nach den Erben. Dieser Schritt ist 

 

oft noch mühsamer als die eindeutige Identifizierung als Raubgut. Nach 

 

und nach bringt die Suche eine ganz besondere Geschichte zum Vorschein. 

 

"Hier verzahnen sich zwei Seiten der deutschen Geschichte, die schönste 

 

und die schrecklichste" , sagt Anneke de Rudder.

 

Jacob Hans Sternheim wurde 1880 in eine Berliner Bankiersfamilie 

 

geboren. Seine Eltern waren vom Judentum zum Protestantismus 

 

übergetreten und enge Freunde der Familie Theodor Fontanes. Als 

 

Hans getauft wurde, übernahm der Literat die Patenschaft. Hans 

 

Sternheim wurde ein angesehener Druckereibesitzer in Berlin. 

 

1905 heiratete er die aus dem Hamburger Grindelviertel stammende 

 

Ida Marie Eschwege und bekam mit ihr 1906 eine Tochter: Käthe.

In der NS-Zeit wurden die Sternheims als " Volljuden"  verfolgt, 

 

sie mussten mit Tochter und Enkelin mehrfach umziehen, und als 

 

sie im Mai 1939 einen Teil ihrer Bücher verkauften, geschah dies 

 

im Zuge wachsender finanzieller Not. 1942 wurde das Ehepaar nach 

 

Theresienstadt deportiert, 1944 in Auschwitz ermordet. Käthe, 

 

geschiedene Frau eines nichtjüdischen Berufsoffiziers, leistete

 

in Berlin Zwangsarbeit, tauchte unter und überlebte den Krieg 

 

mit ihrer Tochter in der Oberlausitz.

 


"Wenn wir Bücher zurückgeben, kennen wir die Familiengeschichte 

 

oft besser als die Erben", sagt Anneke de Rudder. Die Informationen 

 

zu den Sternheims setzen sich aus verschiedenen Dokumenten zusammen. 

 

Die Historikerin sucht zunächst in Online-Datenbanken, findet jedoch

 

zunächst nichts. Sie besucht Archive in Potsdam und Berlin, entdeckt 

 

Anträge auf Wiedergutmachung, sieht Verfolgungsakten ein. Dann der 

 

entscheidende Hinweis: Die Enkelin hatte in den 1990er-Jahren 

 

Akteneinsicht beantragt, dort ist ihr Name und Berlin als Wohnort notiert.

 


Anneke de Rudder sieht alte Telefonbücher durch, fragt beim Meldeamt 

 

nach und hält schließlich einen Zettel mit Adresse und Telefonnummer 

 

in den Händen. Sie schreibt Ingrid Mertens einen Brief, will sie nicht 

 

überfordern. Zwei Tage später kommt eine E-Mail zurück, vom Smartphone

 

der alten Dame. Die Forscherin und die Enkelin telefonieren, dann macht 

 

sich Anneke de Rudder auf den Weg nach Berlin. Im Gepäck hat sie die 

 

Bücher von Hans Sternheim.

 


Ingrid Mertens entscheidet sich, diese in Hamburg zu belassen. In einer 

 

großzügigen Geste schenkt sie der Bi­bliothek weitere Dinge aus 

 

Familienbesitz, die nun als Teilnachlass Hans Sternheim zu den 

 

Sondersammlungen gehören. Es sind Familienfotos, Briefe und 

 

Originaldokumente, darunter Geburtsurkunden, ein Taufschein, Ausweise, 

 

Lebensläufe sowie ein Leutnantspatent. Auch zwei Bände mit Fontane-

 

Gedichten sind Teil des Geschenks. In einem steht eine persönliche 

 

Widmung des Autors -  "in herzlicher Freundschaft"  -  an Hans 

 

Sternheims Mutter Marie.

 


Die Generation von Ingrid Mertens ist die letzte, die den 

 

Nationalsozialismus miterlebt hat. Die 90-Jährige macht sich Sorgen 

 

über die derzeitige Entwicklung in Deutschland. " Leider leben wir 

 

in einer Zeit, in der der Antisemitismus wieder zunimmt" , sagte 

 

sie bei der Übergabe in der Bibliothek." Das macht mich nachdenklich 

 

und traurig. Möge auch durch Ihre Wachsamkeit nicht aus dem 

 

,Nie wieder'  ein ,Doch wieder'  werden."

Kontakt:

Referat für Öffentlichkeitsarbeit


Dr. Konstantin Ulmer
E-Mail: konstantin.ulmer@sub.uni-hamburg.de
Telefon: +49 40/42838-5918

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